Wenn die Musik den Inhalt zum Tanz auffordert:
CARMEN
eine (psycho-)logische Charakterstudie in Sachen Bewusstsein
Musikgeschichte der etwas anderen Art
(vorab veröffentlicht in AnDante Das Kulturmagazin)
„Warten ist nicht verboten. Und Hoffen – immer schön!“
Den Charakter Carmens zu analysieren ist eine Anstrengung für sich. Mit der Betonung auf anstrengend darf es denjenigen, der es einmal versucht hat, denn auch nicht mehr verwundern, dass diejenigen auf der Suche nach Sekundärliteratur ob des Mangels schier verzweifeln.
Ergo hilft nur eines. Was man an Lektüre nicht findet, muss man halt selber schreiben.
Der mutmaßlich gepflegte Eingriff
G. Bizets Carmen erlebte ihre Uraufführung 1875. Seither wurde viel diskutiert, meist gestritten, mehrfach umgeschrieben, häufig umkonzipiert und, wohl eher verhängnisvollerweise, auch umstilisiert.
Verhängnisvoll deshalb, weil dem Musiktheater seit jeher die unleidliche Bühnenpraxis anhaftet, dass man sich eines etablierten Werkes bedient, um dann wie selbstverständlich alles besser zu wissen. Besser als alle anderen und vor allem besser als der Komponist. Die Kunst liegt scheinbar nicht darin, ein Musikstück zu schreiben, sondern darin, dagegen zu rebellieren, indem man es völlig anders gestaltet als vom Urheber vorgesehen. „Trotzt dem Komponisten!“, lautet das Credo der aufsässigen Profilierungsanwärter. Wer nichts anderes kann, zerlegt das Vorhandene. Ob dies auf Kosten der formalen Klarheit des Originals geschieht? Inhaltliche Einbußen? Verunglimpfte Charaktere? Wen interessiert’s, wenn hehre Kunst ihren Tribut fordert.
Dieses Schicksal widerfuhr Bizets französischem Meisterwerk bereits kurz nach der Uraufführung und so wurde seine Originalkonzeption zur großen Oper umstilisiert. Neben der umstrittenen Übersetzungsfrage gab die Frage nach Rezitativ oder Prosadialog am häufigsten Anlass zu heftigen Diskussionen.
Die Prosadialoge des Originals meinte ausgerechnet ein persönlicher Freund Bizets, Ernest Guiraud, durch Rezitative ersetzen zu müssen. Dass hierbei die Präzision in der Aussagekraft des französischen Urtextes verloren geht störte Guiraud wohl weniger als das gesprochene Wort. Der folgerichtige Verlust innerhalb so pointierter Struktur wie von Bizet kreiert, bewirkte gar eine Wesensveränderung der Titelfigur. Carmen, wie sie Bizet vorsah, bestimmt durch die Geradlinigkeit
ihrer durchaus komplexen Charakterzüge den Handlungsverlauf. Das Stück lebt vom
psychologischen Tiefgang aller Protagonisten, aber insbesondere dem der Titelheldin.
Mit Wahrhaftigkeit auf den Spielplan
Unumstritten ist, dass Bizets musikdramatischer Stil wesentlichen Einfluss auf die Musikgeschichte nahm. Inwiefern die psychologisch gnadenlos realistische Einschätzung seiner Titelheldin, inwieweit diese wirklichkeitsgetreue und zugleich brutal sachliche Auslegung innerer und äußerer Werte, die Entstehung des italienischen Verismo überhaupt erst ermöglicht hat, sorgt weiterhin für Diskussionszündstoff.
Wie nah kann man Carmen kommen (bevor man selbst ins Messer läuft)?
Ob die verschiedenen Übersetzungen, formale Bearbeitungen und das Einfügen der Rezitative den Charakter von Bizets eigensinniger Titelfigur verfehlt, ja geradezu verfälscht und somit das Stück um Sinn und Inhalt beraubt haben, auch darüber wurde häufig debattiert und noch häufiger artete auch dies in heftige Streitigkeiten aus. Mit der Untersuchung dieser kontroversen Sichtweisen und deren Konsequenzen könnte man in epischer Breite ganze Bücherregale füllen. Da der Umfang des Magazins jedoch hierfür nicht ausreicht, möchte ich mich auf einzelne Aspekte konzentrieren und aus exakt diesem Grund kann die Betrachtungsweise auch nur aus ganz subjektiver Sicht geschehen.
Ich möchte nachdrücklich darauf verweisen, dass allein der Versuch einer objektiven Darstellung der verschiedenen Sichtweisen das Resultat eines einer Enzyklopädie nicht unähnlichen Buchbandes nach sich ziehen würde. Ob diesen beträchtlichen Umfangs kann an dieser Stelle nur ein subjektives Bild aufgezeichnet werden.
Was gilt? Und was gilt als subjektiv?
Man kann ein Leben lang studieren, recherchieren und grübeln, und trotzdem findet man keine Antwort auf die wesentlichen Fragen des Studienobjekts. Dann wiederum gibt es den Glücksfall, dass man eine für sich gültige Darstellung entdeckt und auf einmal, wie aus dem Nichts, öffnen sich einem Welten – Antworten auf vorher schier unlösbare Rätsel.
So ging es mir mit Bizets Oper Carmen, mit der ich vorher in reeller Weise unvorstellbares durchgemacht hatte. Ich musste mich mental (aber wahrhaftig) massiven Torturen unterwerfen, ohne des Rätsels Lösung einen Schritt näher zu kommen. Zumindest nicht mit dem Bewusstsein. Doch dann … – die Bühnendarbietung! Endlich wurden sämtliche Fragezeichen durch Punkte und Ausrufezeichen ersetzt.
Solch eine Erfahrung macht jene Interpretation für mich freilich authentisch, auch wenn hier Subjektivität natürlich eine große Rolle spielt. Aber wo und in welchem Bericht spielt sie das nicht??? Schon allein deshalb lässt sich hier, entgegen der Rubrikbezeichnung, „Historisches“ nur subjektiv schildern. Aber das ist letztendlich, wenn man mal ehrlich ist, doch eigentlich auch immer so!!
Hier bin ich Mensch, doch menschlich darf nicht sein
Natürlich bestimmen oft genug äußere Umstände unser Schicksal, doch sind es im Grunde genommen die individuellen Eigenschaften des Menschen und seiner Menschlichkeit, die richtungweisend unser Leben steuern. Inwiefern der Charakter durch Umweltfaktoren und Gesellschaft geprägt wird spielt dabei zweifelsohne auch eine wesentliche Rolle. Auf einen Nenner gebracht ist der Mensch einfach nicht unkompliziert genug, um ein für alle verständliches Leben zu führen. Und allen zu genügen, geht sowieso nicht. Hierfür steht uns das Menschsein regelrecht im Wege. Carmen, bezeichnenderweise zur Opera Comique zählend, ist ein Paradebeispiel dafür, dass die Wesenszüge eines Menschen sein Schicksal ausmachen. Die praktische Verwendbarkeit ihres Charakters zeigt intensiv bis über die Schmerzgrenze hinaus, dass etwas geschieht, weil wir so sind wie wir sind. Maßstab aller Dinge ist immer noch der Mensch, auch wenn neuzeitlich alles Mögliche unternommen wird, um auch diesen elektronisch zu ersetzen. Doch solange der Faktor Mensch überwiegt, spielt der psychologische Tiefenaspekt einen wesentlichen Part, wenn nicht die Hauptrolle.
Ein Psychokrimi in musikalischer Hochform
Das häufige Umkonzipieren ist besonders deswegen geradezu tragisch, weil sich doch eigentlich nicht der geringste Zweifel darin finden lässt, dass Bizet in Sachen lineare Verflechtung musikalischer und szenischer Verlebendigung die Formvollendung erst zur Kunst stilisiert.
Hier fügen sich mosaikartig Inhaltssteinchen an Musiknoten, bis sie ein vollständiges Bild ergeben. Betrachtet man diese lückenlos ineinander übergehende Verknüpfung der musikalischen Inhalte mit dem szenischen Geschehen, muss man doch eigentlich vor Hochachtung erstarren, anstelle tatkräftig neuartige Ideen zu kreieren, die die klare Linie der durchwegs komplexen Gestaltung nur entkräften können.
Wenn man sich der formalen Klarheit des Originals unterwirft, das heißt, Bizets meisterhaft ausbalanciertes Gleichgewicht in der Dramaturgie nicht durch irgendwelche willkürlichen Verfahrensweisen aufgrund pseudointellektueller Inszenierungseinfälle zu Rudimenten der völlig abgerundeten Urfassung isoliert, dann erhält man hier eine Charakterstudie, wie man sie in kaum einem Psychologie-Ratgeber wieder finden wird. Ohne dramaturgische Fremdeinwirkung, nur einfach solide fundiert, lassen sich in Carmen seelische Konflikte besser analysieren als auf mancher therapeutischen Praxiscouch.
Wenn die Musik den Inhalt zum Tanz auffordert
Mit erbarmungsloser Konsequenz bezieht sich in der Originalfassung jeder einzelne Takt auf die Handlung! Nicht ein einziger Ton gilt dem illustrativen Augenblick! Keine Note, die sich nicht als Handlungsträger betätigt und Dienst am Geschehen erweist! Somit kippt die Musik nicht für den geringsten Moment aus der formalen Ganzheitlichkeit! Im Klartext heißt das, Bizet verliert beim Komponieren nicht eine Sekunde lang den szenischen Zustand aus den Augen und er unterliegt keinen Augenblick der Versuchung eines musikalischen Eigenlebens. Auf diese Weise schafft er Charaktere, die in ihrem Wesen restlos in musikalische Form eintauchen, - und das ist die
große Stärke dieses Stücks. Warum also an so ausgewogener und formal tadelloser Urfassung herummeißeln?
Schließlich ist es des Komponisten Stärke, zu ermöglichen, dass die Musik permanent szenischen Bezug nimmt und zwar in jeglicher Hinsicht. Sowohl die Struktur der Musik betreffend, als auch der bewusste Einsatz chromatischer Gegenstimmen dienen einzig dem Handlungsverlauf respektive den tiefenpsychologischen Kriterien der Charaktere. Die beständig prägende Klangkulisse unterstreicht nicht nur die inhaltliche Aussagekraft jedes einzelnen Protagonisten, durch die Art der Formbindung umfasst die Musik in fulminanter Weise auch deren Wesenszüge.
Gefangen und eingeschlossen in Beziehungskisten
Der Handlungsablauf findet zumeist auf zwei Ebenen statt, die untrennbar miteinander verstrickt sind und dabei ohne jegliches Zugeständnis an illustre Schmuckdetails permanent dem stringenten Inhalt dienen. Der nüchtern betrachtete Sachverhalt hinsichtlich der Beziehungskonflikte sieht dabei relativ einfach aus. Micaela liebt José, José liebt Carmen, Carmen liebt Escamillo. Und Escamillo? Der Prototyp eines Narziss’ liebt nur sich selbst.
Dabei ist es in erster Linie die Auseinandersetzung zwischen Carmen und José, die das zentrale Thema veranschaulicht. Hierin offenbaren sich alle Konfliktarten, sowohl die der psychologischen als auch die der realen Natur. Kein Wunder also, dass sich auch Friedrich Nietzsche für den Seelenzustand der Operncharaktere in ihrem Beziehungszwiespalt interessierte.
Liebe lieber lieblich
Carmens merkwürdig anmutende irrationale Verhaltensweisen ziehen sich durch das ganze Stück. Umgarnt von JederMann, dementsprechend angefeindet von JederFrau, hat Carmen offenbar leichtes
Spiel. Denn kaum einer aus der männlichen Riege ist nicht dabei, ihr den berühmten Hof zu machen. Doch! Einer ist scheinbar uninteressiert. Es ist der zumindest bis dahin redliche Sergeant Don José, der den Anschein erweckt, ihm sei die zahlreich Umworbene gleichgültig. Selbst der neue Vorgesetzte, Leutnant Zuniga, hat nicht nur ein, sondern gleich beide Augen auf Carmen geworfen und schickt sich in bester Platzhirschmanie an, ihre Gunst zu erobern. Doch Carmen lässt sich nicht ohne eigenen Willen in Gefühle verstricken. Dass Zuniga sie denn auch bei erster Gelegenheit mit dem Strick gefesselt abführen lässt, spielt eine Rolle, ihm aber nicht in die Karten. Carmen bestimmt die Spielregeln. Sie hat bereits anderweitig ihre Wahl getroffen.
Und wenn man nach der Personifizierung des Begriffs Eigensinn sucht, in Carmen wird man fündig.
Ausgewählt hat Carmen also jenen vermeintlich Gleichmütigen. Von Anbeginn ist freilich klar, dass Carmen José in keiner Weise kalt lässt. Im Gegenteil, er ist vom ersten Augenblick an von ihrer Erscheinung fasziniert. Es ist eine verhängnisvolle Faszination, die letzten Endes beide ins Unglück stürzen soll. Dass sich Tragik anbahnt, kann man früh erahnen, lange bevor Carmen konstatiert, Hund und Wolf würden kein gutes Gespann abgeben.
Nerven und andere Verbündete
Bizet gelingt es, jedes noch so geringfügige Detail der Handlung mit der Musik in Einklang zu bringen, so auch die wesentliche Grundcharakterisierung seiner Hauptprotagonistin und ihre seltsam anmutende Verbundenheit mit dem rechtschaffenen Soldaten José. Wenn hier das Crescendo weit ausgreift und in der sich stetig steigernden Entwicklung schließlich zum Gipfel gelangt, ist dieser die
Spitze des Eisbergs, der urplötzlich und paradoxerweise vulkanausbruchartig jede Faser des Körpers mit glühender Lavahitze erfüllt.
Die gereizten Nervenstränge schmerzen bei der kleinsten Berührung, denn hier macht sich eine Intensität breit, die sich beklemmend tief in das Bewusstsein des Betrachters senkt. Dem Zuschauer/Zuhörer schnürt es schier den Hals zu, wenn am Höhepunkt angelangt, der Akkord einer Emphase den Raum erfüllt, wie sie eindringlicher nicht sein könnte. Bizet drängt auf Wahrnehmung mit allen Sinnen So wird akustisch widergespiegelt, was die Augen vernehmen und das Empfinden konfrontiert. Don José, der vielerorts in vielerlei Hinsicht vielfach unterschiedlich charakterisiert wird, unterliegt, und da sind sich wiederum alle einig, in kürzester Zeit mit leibhaftiger oder gar leibseeliger Hörigkeit. Zuerst mit dem Leib, dann mit der Seele, bis die Abhängigkeit mit der unvermeidlichen
Katastrophe endet.
Kontrastreiches Trauerspiel um Provokation und Konsequenz
„Denn ich trotze dem Tod und dem höllischen Feuer“: bereits bei der ersten Begegnung zwischen Carmen und Zuniga ist ihr ganzes Verhalten auf Provokation ausgerichtet. Sie brüskiert ihre Umgebung in höchstem Maße bis hin zur gefährlichen Selbstzerstörung, die sie beinah strategisch heraufbeschwört. So fordert sie in jeder Lage und bei jeder Gelegenheit jeden so lange heraus, bis Missmut zur Bedrohung wird. Anstelle Zuniga zu antworten, provoziert sie ihn mit geträllerter Replik, die an Impertinenz kaum zu überbieten ist. An anderer Stelle ist sie fasziniert vom Torero, der es sich zur Lebensaufgabe gemacht hat, im Kampf mit dem Stier entweder selbst zu erliegen oder vorzugsweise dem gereizten Tier seinerseits den Tod zu bringen.
Doch den alles entscheidenden Zug selbstdestruktiver Endgültigkeit, beschließt Carmen, indem sie José, der schöne Junge, der ihr gefällt und den sie zu ihrem Liebhaber macht, in ebenso merkwürdiger wie verhängnisvoller Weise auswählt. Merkwürdig vor allem deshalb, weil diese Wahl nicht die Rolle des Geliebten kürt, davon gibt es einige, hier wurde derjenige auserkoren, der ihr den Tod bringt.
Die Opernhandlung um das rätselvolle Naturgeschöpf in Carmens Wesen und ihre schicksalhafte Verbundenheit mit José lässt keinen Zweifel daran, dass hier in verheerender Weise Treibstoff und gezündetes Streichholz aufeinandertreffen, Leidenschaft, die in heftiger Auseinandersetzung alles Begehren niederbrennt.
Josés verzweifelte Anklammerungsversuche sind von vorne herein zum Scheitern verurteilt. Er glaubt an die Liebe seines Lebens. Carmen weiß, dass es eine Episode ist und möglicherweise ist ihr da auch schon bewusst, dass hier bereits das Schlusskapitel eingeläutet wird. Und so darf auch ihre anfänglich beinah manisch angehauchte Überheblichkeit nicht mehr verwundern.
Die Definition von Übermut findet ihre neue Unterteilung in über Mut, und zwar weit über den üblichen Wagemut hinaus. Wann immer José sich ihrer sicher scheint, bereitet Carmen seiner Verzauberung ein jähes Ende. Seine hitzigen Annäherungsversuche lässt sie abblitzen und ernüchtert ihn mit kalten Worten. Sein reputierliches Ansehen leidet unter ihrer wiederholten Demütigung. Mit verächtlichen Gesten gibt sie ihn mitunter gar der Lächerlichkeit preis. Absurd, denn gerade ihn hat sie in Liebe gewählt und fügt so der Kette an Fehlbeziehungen das alles entscheidende Glied zu.
Wo Widerstreit zum Wettstreit wird
Bereits von Anbeginn der Opernhandlung bis hin zum bitteren Ende treffen widersprüchliche Gegenpole aufeinander nicht zwangsläufig aufgrund verschiedener Personen. Allein im Wesen der Titelheldin vereinen sich in grotesker Weise paradoxe Verhaltensmerkmale, die aber letztendlich alle einem einzigen, praktischen Sinn folgen.
Und so versieht Carmen den Auserwählten denn auch mit reichlich Hohn und Spott. Optischer Höhepunkt der spürbar konträren Diskrepanz dieser Szene: Carmen wirft José eine Rose zu. Soweit die romantische Auslegung der Aktion. Tatsächlich wirft sie ihm die Blume spöttisch an den Kopf und stellt so, rein illustrativ, ihre Überlegenheit in Sachen Willenskraft unter Beweis.
Immer konform, die Verflechtung von Partitur und Geschehen. Musikalischer Höhepunkt, während Blumen sprechen oder in dem Fall Blume fliegt: Orchesterschlag. Dieser Romantik entbehrende Moment, den man, handelte das Stück nicht ausgerechnet von Mérimées Carmen, durchaus als Liebe auf den ersten Blick auslegen könnte, fällt also reichlich robust, mit grober Überheblichkeit und somit
eigentlich eher entmutigend aus. Und doch oder dem Gesetz der Paradoxie folgend, gerade deswegen ist es der Blick Carmens, der José von Grund auf völlig verändert.
Kündigen auch Blumen im Tiefflug Regenwetter an?
„Ja, als du erstmals mir erschienen, hat dein Blick es mir angetan, dir musste ich von nun an dienen, Carmen, seitdem gehöre ich dir an!“ José erinnert sich hier an den für ihn unvergesslichen und unvergleichbaren Augenblick, mit der Betonung auf Augen-Blick. Denn es ist jener Blick in Carmens Augen, der sich ihm tief in die Seele brennt. Die Art Augenkontakt, die beim Getroffenen das Weltbild völlig aus den Angeln hebt, sein Leben komplett umstülpt und letztendlich auch sein Naturell grundlegend verändert, weil er meint, er sei mit allem Begehr am Ziel angekommen. An diesen einen, eine Unendlichkeit währenden Augen-Blick, denkt er zurück, und weiß da noch nicht mal, dass er kurz davor ist, sein ganzes Leben auf die Schattenseite zu kippen und seine Idealvorstellung von Festigkeit ins Gegenteil wandeln wird: vom korrekten Soldaten zum Deserteur, vom redlichen Mann zum Schmuggler – Wesensveränderung in jeder Hinsicht und mit allen Konsequenzen. Auch hier wiederum das komplette Kontrastprogramm in Sachen charakterliche Auswertung.
Rosen im freien Fall
Und wie die Arie „Die Blume, die ich am Herzen trage“ zutage bringt, ist es die von Carmen verächtlich zugeworfene Blume, die sein Glück symbolisiert. Nun gehörte speziell diese Begegnung ja, wie bereits erläutert, nicht unbedingt zu den romantischsten Augenblicken im Leben des frisch verliebten Paares.
Und doch erfahren wir im Verlaufe seiner Arie, dass gerade die Blume, die Carmen ihm einst voll übermütigem Spott ins Gesicht geschleudert hat, für José zum Ersatzsymbol erfüllter Liebe avanciert.
Nein, diesmal ist es kein Druckfehler. Gemeint ist tatsächlich nicht die bis dahin unerfüllte Leidenschaft. Auch sein Verständnis für beständige Treue und Gebundenheit hat wohl kaum eine reelle Chance auf Erfüllung. Doch blind vor Liebe ist José überzeugt, alle seine Wünsche hätten sich bereits erfüllt und so wähnt er sich in Gedanken bereits am Ziel seiner Träume. Tatsächlich und physisch real befindet er sich zu diesem Zeitpunkt jedoch in einer Gefängniszelle und nicht nur die Gitterstäbe trennen ihn von seiner großen Liebe.
Anleitung für Trockenblumen (ohne Warentest-Empfehlung)
Ihr Blick hat ihn gänzlich in den Bann genommen und es ist die verächtlich auf dem Boden gelandete Blume, die ihm die Sinneserfüllung verspricht. Das mittlerweile naturgemäß verdörrte Grünzeug stellt in seinen Augen das Symbol vollkommener Schönheit dar. Und wer schon einmal Blumen getrocknet hat weiß, dass sich auch der Duft nicht ewig konservieren lässt und schon gar nicht in der Brusttasche eines ausgiebig getragenen Herrenhemdes. Dennoch führt ihn diese Duftnote in seinen Tag- und Nachtträumen zu seiner Geliebten.
Angesichts des selbst kreierten illusorischen Blendwerks mag Josés musikalisch dargebrachtes Eingeständnis jämmerlich naiv erscheinen; eine erniedrigende seelische Selbstentblößung, die man beim reputierlichen Soldaten nicht vermutet. José geht so weit, dass er seelisch alle Hüllen abstreift, was für den untadeligen Mann zwangsläufig herabwürdigend wirkt. Wirken würde, wäre die ungewöhnliche Offenbarung nicht in Bizets wunderschöner Musik wie in einer Schutzhülle eingebettet.
Insbesondere Josés Wunsch nach immerwährender Bindung, nach Beständigkeit und letztendlich auch nach geregelten Verhältnissen, wird durch die musikalische Formbindung wirkungsvoll zum Ausdruck gebracht, ohne den Handlungsfortlauf im Geringsten einzubremsen.
Kein Zwischenstopp im Nietzsche-Fach. Es treibt sie voran. Das weite Feld der Unergründlichkeit behält ebenso wie das der Unbeständigkeit in allen Belangen die Oberhand.
Härte aus Leidenschaft
Ich habe mich immer gefragt, warum ich die bloße Darbietung der Femme Fatale eher als enervierend als in irgendeiner Weise als aussagekräftig empfand, bis ich zu der Überzeugung gelangte, dass die Unbeständigkeit des erotischen Liebesgeplänkels hier nur den Belag formt, der dann mit dem eigentlichen Reizzustand beschichtet wird.
Diese These unterstreicht den praktischen Sinn solch grotesk anmutenden, selbstdestruktiven Gebarens, wie Carmen es verhaltenstechnisch ohne die kleinste Unterbrechung, das ganze
Stück über durchzieht, angefangen von ihrem die Menge provozierenden Auftritt, über ihre herausfordernde erste Begegnung mit Zuniga, über ihre Wahl des anfangs noch eigentümlich zurückhaltenden, aber schon da offensichtlich impulsiven Don José, bis hin zum Liebhaberwechsel.
Und nachdem man bis dahin bereits Bekanntschaft mit dem Jähzorn Josés machen durfte, wendet sich Carmen ausgerechnet dem egomanischen Escamillo zu, der nichts und niemanden so sehr liebt wie sich selbst, der es sich zur Lebensaufgabe gemacht hat, ein Lebewesen bis zur Weißglut zu reizen, um es dann zu töten. Den Etappen des barbarischen Stierkampfrituals nicht unähnlich, steigert sich auch in Carmens Verhalten der dramatische Fortlauf schonungsloser Schicksalshaftigkeit.
Mit Liebesmühen auf die schiefe Bahn
Carmens kindlicher und zugleich erotischer Charme ist spürbar. Doch ist es gerade das spürbar, was die Faszination ausmacht, geht spürbar in permanent sichtbar über, büßt ihre Entschlossenheit an Glaubwürdigkeit ein. Denn weniger in körperlichen Gesten, als bereits im bloßen Spiel der Augen, wird ihre maßlose Willensstärke und alles was diese Figur ausmacht, veranschaulicht. Das heißt, um die Provokation mit schlüssiger Wahrhaftigkeit zu versehen ist es notwendig, dass Carmen ihre Entschlusskraft mit purer Härte und messerscharfem Zynismus bis an die Spitze treibt.
Dabei ist klar, dass nichts bei Carmen ohne Leidenschaft geschieht. Es ist jedoch weniger das sinnliche Liebesspiel, das ihr zum Verhängnis, als ihre komplette Hingabe in ihr unheilvoll angekündigtes Schicksal. Auch wenn grenzenlose Leidenschaft gar das Leitbild ihrer gesamten Handlungsweise bestimmt, wird sie zugleich und zwar mit jeder Faser ihres Körpers, beherrscht von einer pathologisch anmutenden Beschwörung ihrer Grundsätze. Selbst ihre spielerische Verliebtheit, welche sich, arglos betrachtet, eher der Kategorie Geplänkel zuordnen ließe, unterwirft sie dem Prinzip der Worttreue. Und schon artet die Triebhaftigkeit in Getrieben-Sein aus – und Leidenschaft zeigt, was Leiden schafft.
Carmens Naturell muss daher kompromisslose Härte suggerieren. Mit weicheren Zügen verliert der Charakter definitiv an Kontur. Diese offen zur Schau getragene Wesensstärke bringt ihre wahrhaft unabdingbare Willenskraft schärfer umrissen zutage. Gleichzeitig ist da aber durchaus auch eine
Vorhandene Sensibilität. Auch wenn ihr Willen nicht brechbar, ist sie trotz alledem verletzbar.
Auch diese Seite an ihr ist vorhanden, aber nicht sichtbar, da sich die Verwundbarkeit nur am geheimsten Ort in der Tiefe ihres Inneren abspielt, wohin kein Mensch Zugang hat. Der rätselhafte
Charakter Carmens ist nicht zuletzt deshalb so schwer spielbar, weil es gilt, diesen Ort der Verletzbarkeit nicht zu enthüllen, auch nicht den Zugang dorthin zu verschaffen, jedoch sehr wohl zu vermitteln, dass eine solche Stelle in ihrem Inneren existiert. Vorhanden ja, aber keinesfalls erhält man den winzigsten Einblick auf das, was an dieser seelischen Achillesferse vor sich geht.
Bis zum Äußersten
Bei all ihren Handlungen, ihren Worten und ihren Gesten kann man auf den tödlichen Ernst jeder einzelnen Begegnung schließen. Daher muss man sich fragen, wie bewusst sie die Verbindungen eingeht, die ihr letzten Endes alles andere als gut tun können. Dieses Mysterium um ihren Willen und ihre konsequente Entschlossenheit ist unmittelbar ins Thema eingebunden. Es gilt, das rätselhafte Wesen Carmens, sowie die schicksalhafte Wahl ihrer Liebhaber zu unterstreichen.
Hier lassen sich bis ins Detail durchdachte Feinheiten entdecken. Mit José wählt sie denjenigen, der ihr Schicksal endgültig besiegelt. Die Tragik dieser Verbundenheit wird zur vollen Gestalt ausgeweitet, doch es bleibt die Ungewissheit, inwiefern Carmen auch oder gerade diesen unwiderruflichen Lauf der Dinge willentlich beeinflusst. Denn es scheint offensichtlich, dass sie die Endgültigkeit der Fügung geradezu heraufbeschwört. Sicher ist in jedem Fall, sie stirbt mit ungebrochenem Willen. Doch was ist es, das mir stets das Gefühl vermittelt, sie würde diesen verhängnisvollen finalen Schritt auch im hundertprozentigen Einklang mit sich selbst tun??
Lüneburg: ein Regiekonzept stimmt … – nachdenklich!
Es gibt viele bezeichnende Beispiele, inwiefern neuartige Regiekonzepte sich selbst feiern und in ihrer vermeintlichen Vortrefflichkeit keinen einzigen Treffer landen. Doch es gibt auch durchaus Ideen, die "Carmen" in nuanciert anderem Licht erscheinen lassen, ohne dass sich der Komponist im Grabe umdrehen müsste. Ein gelungenes Beispiel dafür, dass man die Partitur mit Respekt behandeln und dennoch innovatives Gedankengut einfließen lassen kann, war vor etlichen Jahren die "Carmen" in Lüneburg.
Vordergründig gesehen, sieht der Inhalt der letzten Szene vor, dass Carmen mit Leib und Seele stirbt. Doch das Konzept in Lüneburg beleuchtet einen anderen Blickwinkel, der dann genau genommen die Verhaltensweisen der Titelfigur wiederum in ein bemerkenswert plausibles Licht rückt. Wenn ich es recht bedenke, so ist diese geniale Betrachtungsweise für mich persönlich das ultimative Regiekonzept!
Es erklärt das rätselhafte Wesen der verhaltensstarrsinnigen Titelfigur. Oberflächlich betrachtet stirbt Carmen auch hier mit Leib und Seele. Doch die Metapher hinter dem Regiekonzept sieht vor, dass nur mehr ihr Leib durch Josés Messerstich den Tod findet. Ihre Seele ward bereits lange Zeit vorher durchbohrt, vielleicht noch bevor die Opernhandlung überhaupt begonnen hat.
Das ist eine Verschiebung der Akzente, die mir keineswegs unlogisch erscheint. Denn exakt dieser psychologische Tiefenaspekt verdeutlicht sich in ihrem Verhalten, das permanent die Substanz ihres
Bewusstseins widerspiegelt, während sie bis an die Grenzen der Selbstvernichtung agiert.
Schauer und Trauer, ein Pärchen in kalter Hand gefunden
Carmen willentlich beeinflusstes selbstdestruktives Handeln verdeutlicht Verhaltensweisen, die eigentlich breites Unverständnis hervorrufen.
Stattdessen empfand ich gerade an den unmöglichsten Stellen immer eine merkwürdige Ruhe, die auf irritierende Weise fast in trostvolle Beruhigung mündete. Ich war mir nicht klar, was rätselvoller ist. Das Wesen der Protagonistin oder mein Einverständnis mit grotesker Provokation.
So spüre ich, seit ich zurückdenken kann, diese irritierende innere Stille auch in der Schlüsselszene, wenn Carmen erkennt, dass die Karten ihr den Tod prophezeien. Kalter Schauer darf dem Betrachter über den Rücken laufen, wenn Carmen in den Karten die unheilvolle Nachricht liest. Obgleich in diesem Sinne ganz ohne Zweifel auch immer absolut wirkungsvoll dargestellt, blieb dieser Schauer bei mir stets aus. In dem aufschlussreichen Moment dieser zentralen Szene konnte ich keine Furcht in Carmens Augen erspähen. Oder wollte sie nicht sehen. Denn dort, wo ich sie sah, war die Darbietung für mich nicht mehr gültig!!
Die Ruhe vor dem Sturm
Es mag wie ironische Distanz klingen, brachte mich aber in Wirklichkeit der Figur ein gehöriges Stück näher. Anstelle auf Todesangst lauere ich vielmehr auf eine merkwürdige Sehnsucht, die in jener Kartenszene wohl am prägnantesten zum Ausdruck gebracht werden kann! Freilich ist da der erste Moment des Schreckens, doch dieser rührt eher von Überraschung als von der eigentlichen Angst. Carmen wird für den Bruchteil einer Sekunde vom Schauer der Todesahnung berührt, doch noch im selben Augenblick von der Souveränität ihrer Willensstärke überholt.
Die Gewissheit, die ihr der erneute Kartenwurf beschert, hat diesen Moment bereits überwunden. Vielmehr wandelt sich die Furcht, noch während in weiteren Versuchen die Karten erneut zu befragen, die Botschaft stets aufs Neue bestätigt wird, in eine seltsam anmutende Akzeptanz bis hin zur Einwilligung. Resignation? Keineswegs!! Eher das Anfreunden mit dem Gedanken der bevorstehenden Endgültigkeit.
Sie weiß, dass José ihr den Tod bringen wird, aber hat sie ihn vielleicht gerade deswegen ausgewählt? Eines ist sicher, rational kreatürliche Angst ist ihr definitiv fremd!!
Amoklauf der Sinne
Die Todesprophezeiung avanciert zur Bestätigung dessen, was ihr Verhalten vier Akte hindurch vermuten lässt und was in der letzten Szene, bevor José ihrem Leben ein Ende setzt, gar noch mal ganz deutlich an Ausdruck gewinnt. Carmen überlässt José die Wahl. Dabei gibt es nur zwei Optionen, das in ihren Augen sinnlose Gespräch zu beenden und sie weggehen zu lassen oder das in ihren Augen sinnlose Gespräch zu beenden, indem er sie tötet. Dabei provoziert sie ihn in so unfassbarem Maße, dass José eigentlich nur die letztere der beiden Optionen bleibt.
Er soll wählen und hat im Grunde genommen gar keine Wahl! Sie fordert den mittlerweile bis in den Wahnsinn Getriebenen auf, auch noch den letzten Schritt zu gehen. Beide haben keine Kontrolle mehr über rationales Verhalten.
Sie provoziert in todesmutiger Weise, drückt ihm die Tatwaffe noch in die Hand, um ihm das Zustechen zu erleichtern, fordert das Erdolchen geradezu heraus, indem sie ihn nach allen Regeln des Irrsinns in den Sinnesverlust treibt – bis es geschieht.
Triumph und Tod im gleichen Atemzug
In dieser, weltweit am häufigsten aufgeführten französischen Oper wird die entsetzliche Paradoxie eines Geschehens so deutlich wie in kaum einem anderen musikalischen Bühnenstück. Hier tritt geschärfter Zynismus zutage, die Herausforderung einer Katastrophe nahezu beschwörend, wie es musikalisch klarer formuliert anderswo schwerlich anzutreffen ist. Die Musik allein spricht wahrhaftig Bände!!
Bezeichnend für den handwerklich meisterhaften Feinschliff, die wuchtige Dramatik anhand großer Melodie, ist die Schlussszene. Wie im ganzen Werk untermalt auch hier das Orchester, in diesem Fall die Streicher, die Handlung, indem das abweichend akzentuierte, instrumentale Torerolied, das derweil in der Arena erklingt, kontrapunktiert bereits den Trauergesang über die getötete Titelheldin zum Ausdruck bringt. Diese Art der musikalischen Verknüpfung von Haupt und Nebenstrang fördert eine Form des Schrecknisses zutage, wie sie tragischer nicht sein könnte. Damit unterstreicht Bizet den Ausdruck des unsäglichen Schmerzes, der den über der Leiche seines Opfers gebeugten und in sich selbst zusammengefallenen José schon im Moment der Tat überwältigt hat.
Siegesmarsch und Trauerklage bilden musikalisch bereits ein solch paradoxes Gegeneinander, dass die Klimax des zweifachen Geschehens in fulminanter Weise kulminiert. Mit der Musik verbunden, werden exakt zur selben Zeit die beiden gegensätzlichen Handlungsstränge auch vor unseren Augen verknüpft. Das heißt, Sieg und Trauer verbinden sich in diesem Augenblick sowohl akustisch als auch optisch.
Kein Totschlag im Affekt. Der Wille als Richter und Vollstrecker.
Gegensätze, mit denen wir das ganze Stück über geradezu gnadenlos konfrontiert werden, fallen unaufhaltsam in sich zusammen. Und die grausam ironische Schlusspointe, den Triumph des Stierkämpfers mit dem Tod Carmens zeitlich ineinander fallen zu lassen, ist eines der prägnantesten Kennzeichen, wie ausgeklügelt Bizet jede einzelne Überlegung abgewogen, mit welch notwendiger Präzision er dabei ans Werk gegangen ist, wie „rücksichtslos“ er Handlung und Musik in Einklang gebracht hat.
Dadurch gelingt ihm eine fast magische Suggestion. Die illusionslosen Augen eines unsichtbaren stummen Erzählers scheinen unentwegt präsent. Wo der Inhalt Rätsel aufgibt, erklärt die Musik, und dort wo Musik Mysterien verursacht, erläutert die Handlung. Bizet hat hier ein meisterhaftes Bühnenwerk mit lückenlos zusammengefügten Elementen kreiert.
Der Reaktion folgt Endstation
In der letzten Szene steht beiden der Wahnsinn gleichermaßen in den Augen geschrieben. José, getrieben von seiner Eifersucht und von Carmens bewusstem Schüren der selbigen, dreht am Ende durch.
Die mentale Sicherung ist durchgebrannt – Kurzschluss. Alles bricht zusammen. Carmen fällt in den Tod. José, nervlich gewrackt, bricht auch physisch über Carmens leblosem Körper zusammen und die
Akklamation der Menge in der Stierkampfarena verstummt im Angesicht der bestürzenden Tat. Erneut Orchesterschlag.
Was man als Schlüsselszenen betrachten kann, die Schicksalsmotive, die immer wieder aufflackern, verrät in Unheil ankündender Weise, welches Ende sich anbahnt. Provokation wird zum Verhängnis.
Inwieweit dies beabsichtigt ist, lässt sich in der Tat aus dem selbstdestruktiven Verhalten der Titelfigur schließen. Eine Absicht, die nicht einmal vom Bewusstsein gesteuert sein muss. Die Kraft des Unterbewusstseins ist keine Erfindung des 20. Jahrhunderts, allenfalls eine Neuentdeckung.
Zug und Matt – wer die Regeln kennt, siegt!
Carmen ist eine durch und durch willensstarke Natur, unnachgiebig, entschlossen bis zum Äußersten.
Ihr Willen lässt sich nicht brechen. Bis in den Tod hinein ist ihre Willenskraft ungebrochen. Unbeugsam fordert sie ihr Schicksal heraus und so scheint es, dass sie nicht nur ungebrochen, sondern letztendlich auch im Einvernehmen mit sich selber sterben darf. Und um diesen Eindruck zu verstärken, lässt Bizet seine Titelheldin vor dem Hintergrund einer jubelnden Menschenmenge den Tod finden, musikalisch so perfektioniert, dass orgiastische Jubelrufe sich mit hysterisch anmutendem Trauerschreien vermengen. Und das was man nicht hört und nicht sieht, fügt den größten Schmerz noch hinzu. Man versinkt im tiefen Graben der Trauer und des Entsetzens, denn dieser seltsame Moment birgt das Auseinanderbrechen von Erwartung und Realität. Das ist der Augenblick, in dem man merkt, wie weit man davon entfernt ist, das Ziel jemals zu erreichen.
Dabei ist alles relativ!
In der Auseinandersetzung mit dem Stück war es für mich unabdingbar, nicht nur ein plausibles Konzept zu finden, sondern vielmehr einer Bühneninterpretation zu begegnen, die mir zu mentaler Eingebung verhalf, was mir aber bis dahin in dieser Weise gar nicht bewusst war. Die Rätsel schienen maßlos, ich eher arglos, somit weit entfernt, eine zwingend klare und dementsprechend tiefere Sinndeutung herzustellen. Erst als ich dann, eher unerwartet, die für mich gültige Darstellung vor Augen hatte, wich die Irritation einer umfassenden Erkenntnis. Wie ein Paukenschlag traf mich die Gewissheit, dass diese Schlüsselszenen die Wesensmerkmale der Protagonistin deutlicher zum Ausdruck bringen konnten, als jeder psychologische Vortrag über zwanghafte Selbstzerstörung.
Getrieben sein und folgerichtig jemanden bis in die Besinnungslosigkeit treiben, bekam fortan eine neue Bedeutung. Somit sind der Provokation auch keine Grenzen mehr gesetzt. Steigerung bis hin zur Klimax, die sich letztendlich dem Mittel des Melodrams bedienen muss, bevor auch Interpreten und Betrachter dem Wahnsinn zu nahe kommen.
In der gedanklichen Akzentverschiebung kann man eine Entschlüsselung des rätselvollen Wesens der Titelfigur erspähen. Welches Regiekonzept damit konform gehend, ein plausibles Licht auf Carmens Verhaltensweisen werfen könnte, habe ich kundgetan. Wessen Darstellung für mich authentisch ist, werde ich hier nicht namentlich nennen, da mein Empfinden ja nicht zwangsläufig dem des Lesers entsprechen muss und schon gar nicht Maßstab aller Dinge ist.
Es gibt kein gut und schlecht. Kunst ist immer eine Frage des Geschmacks!
Daher sei noch einmal unterstrichen, dass jeder Betrachter seine eigene Vorstellung hat und so kann auch nur jeder für sich, aus dem Gefühl heraus, die für ihn gültige Darbietung finden.
Einstein hat einst bewiesen, dass alles relativ ist. Jeder von uns zieht aus dieser Erkenntnis seinen eigenen Nutzen und seine eigenen Schlussfolgerungen!
Für mich persönlich gilt das Fazit: alles ist relativ – und alles ist subjektiv.
© Julie Nezami-Tavi